Vorwärts leben, rückwärts verstehen

von Wolfgang Doell


Die eigene Lebenserfahrung erfassen und in die Karriereplanung einfließen lassen - das ist es, was man eine Standortbestimmung nennt. Der „Lockdown“ im deutschen Sozialleben und in weiten Teilen der Wirtschaft gibt uns nun die Zeit, den Karriereweg, den wir bereits gegangen sind, mit unseren Ambitionen, Wünschen und dem Machbaren abzugleichen. Der Visionär sieht sein Karriereziel aber als Realist und nicht als Utopist. Dazu gehören auch die Hürden, die es dabei zu nehmen gilt. Das bedeutet wiederum, dass sich der Einzelne ebenso wie komplette Unternehmensgefüge in Frage stellen müssen. Eine der wesentlichen Fragen ist, ob die Zeit nach „Corona“ eine andere Zusammensetzung an Stärken in einem Managementteam braucht und welche Rolle man als Individuum einnimmt. Der Geist einer Sache offenbart sich aber am besten in übersetzbaren Praxisbeispielen wie das folgende Fallbeispiel zeigt.

Mission: Aufblühen. Nicht nur Überleben.

Stellen Sie sich ein Unternehmen vor, welches sich nach einem exorbitanten Wachstum, organisch als auch durch Unternehmenszukäufe in unterschiedlichen Ländern, mit verschiedenen Firmenhistorien und deren kulturellen Eigenarten einhergehend, in einem Findungsprozess befindet. Wie sieht der weitere Unternehmensweg unter einem gemeinsamen Dach zukünftig aus? „Corona“ verschaffte diesem Unternehmen Zeit zum Durchatmen. Zeit, um einen Schritt zurück zu machen, einen Blick auf das bereits Erreichte und die Zukunft zu werfen. Wir haben das Unternehmen begleitet, um gemeinsam passende Antworten für die anstehenden Herausforderungen zu finden. Auf Basis eines intensiven und strukturierten Interview- und Evaluierungsprozesses der Top-Führungskräfte im Unternehmen, inklusive der Mitglieder der Eigentümerfamilie, konnten Handlungsweisen abgeleitet werden, von denen wir im Folgenden einige mit Ihnen teilen.

Im Laufe der Gespräche zeigte sich uns ein ausgesprochen loyales und stressresistentes Managementteam, welches hinsichtlich der momentanen Anforderungen, die ein unternehmerisches Denken und schnelles Umsetzen verlangten, die Erwartungen erfüllte. Dazu gehörte neben der Wahrnehmung von Problemen auch ein ausgeprägter Entscheidungswille sowie eigenverantwortliches Handeln. Man schien gut gerüstet für die kommenden Herausforderungen. Was fehlte, war die Fähigkeit andere Schlüssel- und Schnittstellfunktionen vom eigenen Tun zu überzeugen. Dadurch begannen gemeinsam definierte Unternehmenswerte zu bröckeln, und Friktionen zwischen einzelnen Funktionsbereichen waren die Folge. Eine blendende Mentalität allein führt also nicht zu automatisch blendenden Aussichten.

Der Weg: Konsolidieren, Reformieren und Wachsen

Nach einer Reihe von Firmenakquisitionen trat man in eine Konsolidierungsphase ein um sich für weiteres Wachstum vorzubereiten. Dies erforderte wiederum ein ausgeprägtes Beziehungsverhalten der einzelnen Funktionsbereiche untereinander. Die Herausforderung bestand darin ein bis dato sehr vernunftorientiert geführtes Unternehmen, das primär auf nüchtern-anordnende Weise als auch auf Zahlen und Kontrolle basierend geführt wurde, zu verändern. Im Einzelnen betrachtet agierten die Funktionsbereiche fachlich korrekt. Die straffe Unternehmensführung in Punkto Kosten- und Budgetmanagement führte aber zu einer zunehmenden Isolation. Einige der Führungskräfte nahmen sich wenig bis gar keine Zeit für Führungsaufgaben und kümmerten sich in der Folge erst einmal um ihren eigenen und unmittelbaren Verantwortungsbereich, bevor sie in irgendeiner Form interdisziplinär dachten und agierten.

Zeitkritische und multifunktionale Projekte bedürfen Kreativität und einem ungezwungenen informellen Miteinander. Es braucht unterschiedliche Führungs- und Charaktereigenschaften. Neben der Kommunikation und Motivation über Hierarchie-Ebenen braucht es ein multikulturelles Verständnisses und eines von Hierarchien befreitem Denken. Erfolgskritisch für unseren Klienten war es, u.a. die Mitarbeiter in anderen Ländern mitzunehmen, sprich zu begeistern. Die unterschiedlichen Machtdistanzen in anderen Kulturkreisen erforderten andere Führungsqualitäten und Erfahrungen, als man sie in den eigenen Managementreihen hatte. Nur durch eine Ergänzung der bestehenden Führungsdefizite konnte es der Organisation gelingen, sich nicht nur als reformiert sondern auch für weiteres Wachstum gewappnet zu betrachten.

Keine Person ist gut genug, einen anderen ohne dessen Zustimmung zu führen

Mit Gründung des Unternehmens stand der strukturierende Managementtyp, der die Mission definiert und Arbeitsaufträge vergibt, im Fokus. Je mehr das Unternehmen aber in seiner Entwicklungsphase voranschritt, musste sich der Blick auch auf andere, beteiligte Personen richten. Im Endergebnis verfügte unser Mandant über einen Überhang an „Außenministern“. Soll heißen, während die Vertriebsseite ausreichend besetzt war, gab es kein „Innenministerium“, sprich ein funktionierendes Organisationsmanagement, welches proaktiv Akzente für die Zukunft zu setzen vermochte. Im Zuge der zu erwartenden Internationalisierung würde dieser Bereich aber an Bedeutung gewinnen. Das gegenwärtige „verwalten statt gestalten“ würde dann nicht mehr ausreichen. 

Man muss auch Außergewöhnliches leisten wollen um es zu können

Ausnahmslos alle Führungspersonen füllten ihren heutigen Aufgabenbereich mit einer ausgesprochen hohen Leistungsbereitschaft aus. Um insbesondere mittelfristig wichtiger werdende (Neu-)Aufgaben zu erfüllen, entwickelten wir für jeden auf Basis einer individuellen Potenzialanalyse ein Coaching-Programm. Es galt neben den gut „funktionierenden“ Führungskräften auch solche ohne weiteres Entwicklungspotenzial zu entwickeln, sei es in anderen Funktionsbereichen oder auf den nächsten Hierarchie-Ebenen (siehe exemplarisches Schaubild „Kompetenzmatrix“).

Guter Rat hat keine Herkunft

Um die Unternehmenssektoren hierarchie- und funktionsübergreifend „zusammen zu schweißen“, bedurfte es eines höheren Maßes an Beziehungsverhalten, ein Verhalten des Partizipierens. Es war also zwingend nötig, sich mehr Zeit für Führungs- und Organisationsaufgaben zu nehmen. Dies erreichten wir indem wir einzelne Verantwortungsträger entlasteten oder neue Funktionen schufen bzw. organisatorische Zuordnungen veränderten. Wir empfahlen flankierend das Schaffen eines „Steering-Komitee“, das sich fortan den wesentlichen Führungs- und Organisationsthemen im Unternehmen widmete und sich beispielsweise um zukünftige Beförderungs-, Coaching- und Weiterentwicklungsmaßnahmen kümmerte. Ergänzt wurden die Maßnahmen durch eine Gruppe ausgewählter externer Coaches. Ziel war es, eine Transparenz und Nachvollziehbarkeit auf Basis von Konsens und rationalen Entscheidungsgrundlagen zu schaffen. Des Weiteren folgte man unseren Handlungsempfehlungen, die gesamte Organisation weniger hierarchisch zu strukturieren und um eine komplette Hierarchie-Ebene zu kürzen. Ausgewählte Aufgabenfelder wurden in diesem Zusammenhang an die dritte Managementebene delegiert. Wenn ein Rat gut ist, spielt es keine Rolle, von wem er kommt. Unter diesem Credo haben wir dieses Projekt geleitet.

FAZIT:
Nutzen auch Sie akademisch valide und in der Praxis erprobte Mittel, um zunehmende, scheinbar verworrene Ziele sichtbarer und damit auch erreichbarer zu machen, „denn der Langsamste, der sein Ziel nicht aus den Augen verliert, geht immer noch geschwinder, als jener, der ohne Ziele unterwegs ist.“ (G. E. Lessing)